Gerade erst ist die Rantje von Grönland nach Island gesegelt. Eis liegt noch im Kopf, Kälte in den Knochen. Dann öffnen sich Landschaften, die weit sind und leer. Wasserfälle, die einfach da sind. Wale, die unvermittelt auftauchen, als wäre es das Normalste der Welt. Die Ankunft hat sich im Gedächtnis von Mirjam Krane und Harald Zermann, der Rantje-Crew, eingebrannt. Es ist der 28. Oktober 2025. Island stellt einen neuen Schneerekord auf: 27 Zentimeter Neuschnee – und das bereits jetzt im Jahr.
Über Nacht hat sich im Hafen eine feine Eisdecke gebildet. Die Rantje schiebt sich langsam Richtung Steg. Um sie herum knackt und ächzt das brechende Eis leise. Am Steg angekommen, suchen sie die unter der dicken Schneeschicht vergrabenen Klampen. Jede Bewegung kontrolliert und behutsam. Sie kennen den Steg nicht, wollen keine Spalten übersehen. Auch an Land herrscht Ausnahmezustand. Die Bevölkerung ist aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Der Zoll klariert ausschließlich per Funk ein. Niemand kommt an den Steg zur Rantje. Die Insel empfängt sie vollkommen still – mit all ihrer rauen Schönheit.

Die Rantje
Dass dieses Schiff für anspruchsvolle Reviere gebaut wurde, stand von Anfang an fest. Dass es eines Tages hier liegen würde, nicht. Als die Glacer 424 zwischen 1989 und 1991 in der Werft von Heino Gerdes in Varel gebaut wird, geht es um Stabilität und um Substanz. Ein Schiff, das draußen bestehen kann. Dicker Stahl, kein Schnickschnack, keine Effekte. Dass daraus Jahrzehnte später ein Zuhause auf Zeit werden würde – eines, das durch Eis und Sturm trägt –, wusste damals niemand. Vor allem nicht Miri und Harry selbst. „Die Rantje hat uns durch einige der anspruchsvollsten Segelreviere getragen“, sagen die Zwei. „Dieses Schiff hat uns nicht nur sicher durchgebracht. Sie hat uns das Vertrauen gegeben, auch in schwierigen Momenten einen kühlen Kopf zu bewahren.“

Lossegeln
Es ist Juli 2020, als die Miri und Harry ihre Leinen in Wilhelmshaven lösen. Seglerisch bringen beide Erfahrung mit, als sie aufbrechen. Harry hatte zu diesem Zeitpunkt bereits über zehntausend Seemeilen gesammelt. Miri ist seit 2017 mit an Bord. Heute liegen 48.000 Seemeilen, unzählige Stürme und beeindruckende Destinationen hinter ihnen – und ein Kurs, der sich immer wieder neu schreibt: Die Route wächst Schritt für Schritt – Europa, Mittelmeer, Karibik. Dann die Kursänderung.

Kursänderung
„Die Entscheidung, ein Jahr länger unterwegs zu sein, fiel auf Bonaire – und schon am nächsten Tag öffnete sich ein Wetterfenster für den Schlag zurück nach St. Martin“, erzählt Miri. „Manchmal braucht es nicht viel Zeit, nur den richtigen Moment. Und der kam schneller, als wir gedacht hatten.“ Statt sich gegen Wind und Welle direkt Richtung Süden zu kämpfen, entschieden sie sich für einen anderen Weg. Es geht über die Azoren nach Portugal und wieder über den Atlantik nach Südamerika. Über Uruguay und Argentinien bis zu den Falklandinseln.
Überquerung des 40. Breitengrads
In den Roaring Forties erleben sie Stürme jenseits der Prognose. Das Revier macht seinem Namen alle Ehre. „Gerade noch segelten wir bei strahlend blauem Himmel und 15 Knoten mit Vollzeug“, erzählen Miri und Harry, „als plötzlich 50 Knoten Wind einsetzten – wie aus dem Nichts.“ Die Genua können sie gerade noch einrollen, das Großsegel wickeln sie hastig um den Mast. Für mehr bleibt keine Zeit. Über fünfzig Stürme mit mehr als vierzig Knoten haben sie auf dieser Reise erlebt. Sie zählen sie nicht aus Stolz, sondern aus Respekt. Dieser bleibt besonders in Erinnerung: Keine einzige Wolke am Himmel, kein sichtbarer Vorbote - woher dieser Sturm kam, fragen Miri und Harry sich bis heute.
Gastfreundschaft
Doch es sind nicht nur die Stürme, die Eindruck hinterlassen. Es sind vor allem die Begegnungen dazwischen. In den abgelegensten Regionen laden Menschen sie ein, lassen sie Wäsche waschen, nehmen Pakete an, fahren sie kurzerhand durch die Gegend oder überlassen ihnen ihr Auto für Erkundungstouren. Auf den Falklandinseln werden sie kurz nach der Ankunft von Einheimischen zu Pinguinkolonien gefahren, zum Abschied gibt es selbstgekochtes Essen und frisch gebackenen Kuchen. „Diese Herzlichkeit hat uns sehr berührt“, sagen Miri und Harry.

Antarktis
Entlegen sind auch ihre nächsten Ziele. Erst Patagonien und schließlich die Antarktis. Eine Erfahrung, die verändert – und eine tiefe Ehrfurcht hinterlässt vor der Welt, wie sie ohne uns wäre. „Endlose Weite, mächtige Eisberge, eine Landschaft, die sich jeder menschlichen Maßstäblichkeit entzieht“, sagen Miri und Harry. „Was bleibt, ist das Gefühl, winzig zu sein.“ Kein Vergleich, kein Einordnen. Nur das Wissen, an einem der entlegensten, unberührtesten Orte der Erde gewesen zu sein.

Wieder auf der Nordhalbkugel
Meile für Meile führt der Kurs nun wieder Richtung Norden. Erst Argentinien, dann Patagonien. Und schließlich segeln Miri und Harry die Küste nach Mittelamerika hinauf. Dazwischen liegen Strecken, die alles auf das Wesentliche zusammenschieben: Wind, Wache, Vertrauen. Von der Isla Robinson Crusoe nach Costa Rica ist so eine Strecke: 2.600 Seemeilen in 24 Tagen.
Als die Rantje ihr Ziel erreicht, stehen mittlerweile 35.000 Seemeilen im Logbuch. Kurz zuvor haben sie bereits zum zweiten Mal den Äquator überquert. Nach anderthalb Jahren befinden sich Miri und Harry erstmals wieder auf der Nordhalbkugel. „Das war schon etwas Besonderes für uns“, sagen die beiden.

Sturm an der US-Westküste
Noch so ein Moment, der bleibt, folgt im Februar 2025. Dieses Mal von anderer Art. An der US-Westküste, geraten sie nur wenige Meilen vor San Francisco in deutlich stärkeren Wind als vorhergesagt. Statt der angekündigten 35 Knoten sind es 45 bis 50. Es ist Nacht. Die See wird steil und unruhig. Die Strömung läuft dem Wind entgegen, das Wasser ist hier weniger als hundert Meter tief. Brechende Wellen, dazu Legerwall.
Harry steht am Steuer. Miri hält Ausschau nach den größeren, brechenden Seen. Viel gesprochen wird nicht. Jeder Handgriff sitzt, jede Bewegung ist abgestimmt. „Keine angenehme Situation“, sagen sie später. Besonders nicht bei Dunkelheit, so nah an der Küste. Einer dieser Momente, die bleiben – nicht, weil sie außergewöhnlich wären, sondern weil alles zusammenkommt: falsche Prognose, Gegenstrom, Nacht.
Arktis & Nordwestpassage
Je weiter sie nach Norden kommen, desto leerer wird die Welt um sie herum. In Alaska verschiebt sich etwas – nicht abrupt, eher schleichend. „Schon in Ketchikan, unserem ersten Stopp, wurde uns bewusst, dass wir eine andere Welt betreten hatten. Hierhin gelangt man nur per Schiff oder Flugzeug“, erzählt Miri. Je weiter sie nach Norden segeln, desto spürbarer wird es. Weniger Boote, weniger Menschen. Die Häfen werden kleiner, die Distanzen größer und die Stille dichter. Entscheidungen brauchen mehr Vorlauf, Wege lassen sich nicht mehr verkürzen.
Hier beginnt ein anderes Segeln. Die Welt wird weiter – und gleichzeitig enger in dem, was zählt. Eine Entscheidung, über die sie im Rückblick besonders froh sind, ist ihre sogenannte Early-Bid-Strategie: möglichst früh an den entscheidenden Orten zu sein, um ein Zeitfenster nutzen zu können, bevor es sich wieder schließt. Dies führt sie auch sicher durch die Nordwestpassage.

So nehmen sie die erste Gelegenheit wahr, als sich das Eis im Amundsen Gulf kurz öffnet. „Einfach war es nicht“, erinnern sich die beiden. „In den Tagen danach wurde das Eis wieder dichter – ein Weiterkommen wäre vorerst nicht mehr möglich gewesen.“ Mehrfach kollidieren sie mit Treibeis, einmal laufen sie sogar auf eine Eisscholle auf. Situationen, die keine Schlagzeile brauchen. Die Rantje hält stand. „Ein weniger solides Schiff hätte diese Belastungen womöglich nicht so gut überstanden“, sagen Miri und Harry.
In diesem Jahr gelingt es lediglich 14 Yachten, die Nordwestpassage von West nach Ost zu durchfahren. Dass sie 2025 als einziges Boot aus Deutschland durch die Nordwestpassage segeln, spielt für sie keine Rolle. „Flaggen verlieren hier oben ihre Bedeutung“, betont Miri. „In der Arktis zählt nicht, woher man kommt, sondern wie man sich verhält – gegenüber der Natur und gegenüber anderen Crews. Alle Boote sind gleich. Klein im Angesicht von Eis, Wetter und Weite.“

Die Rückkehr beginnt
Nach der Nordwestpassage dreht sich der Bug wieder ostwärts. Über die Weite der Arktis führt der Weg nach Grönland. Noch einmal Eis, Kälte, klare Linien. Kein Ziel im klassischen Sinn, eher ein Übergang zurück in die Heimat. Von dort geht es weiter nach Island. Der Kreis schließt sich langsam.
Der Gedanke, bald schon wieder in der Ostsee zu segeln, fühlt sich für Miri und Harry vertraut an – nicht fremd. „Trotz der vielen Meilen, nach Eis, Sturm und tropischer Hitze bleibt sie ein Rückzugsort“, sagen Miri und Harry. „Die Ostsee ist das Revier, in dem alles begann. Hier setzten wir 2017 zum ersten Mal gemeinsam die Segel.“ Die Rantje wird dieses Revier nun zum ersten Mal erleben. Sie stammt von der Nordsee – doch sie wird sich auch in der Ostsee zuhause fühlen.
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Jules Tolomello
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